Lehrplan 22
Erst seit Beginn des Schuljahrs 2019/20 arbeiten alle Kindergärten, Primar- und Sekundarschulen im Kanton nach dem Lehrplan 21. Und bereits hat der ehemalige Lehrer und heutige Performancekünstler Martin Schick zusammen mit der 3./4. Primarklasse des Schulhauses Limmat sowie internationalen Querdenker/innen den «Lehrplan 22» entwickelt. Sozusagen als Ergänzung und Gegenmodell des Lehrplans 21 und Vision einer etwas fantastischeren, gewagteren und konsequenteren Bildungsreform.
Beobachtungen
An den Blickfeldern beteiligten sich neben professionellen Gruppen auch 71 Schulklassen mit eigenen Projekten, in denen die Kinder und Jugendlichen unter kundiger Begleitung von Kunstschaffenden und Kulturvermittelnden selbst aktiv werden konnten. Marion Delhees, selbst Kulturvermittlerin und Designerin, hat im Auftrag der Blickfelder einen Blick auf die partizipativen Projekte geworfen und ihre Beobachtungen in einem Bericht festgehalten. Lesenswert nicht nur für Lehrpersonen.
Texte/Bilder ©Marion Delhees, Kulturvermittlung
Wie wird aus einem Stuhlbein eine Story?
Beobachtung: Tief hinunter in die Abgründe des Designmuseums zum dunklen Eingang des Sammlungsarchivs wird zitiert. Für das Publikum stehen Stühle so, dass die Blicke wieder hinauf wandern, auf den erleuchteten, eben begangenen Treppenabgang. Er scheint die Bühne zu sein und wirkt eigenartig grossartig. Wann schaut man schon von unten auf eine Bühne? Kaum breitet sich eine Art Toneffekt aus, als ein einzelner Jugendlicher von oben die Treppe herunterstürmt und sich gezielt auf eine Stufe mittendrin setzt. Sofort ist der Ton weg. Und er beginnt zu lesen. Eine amüsante Geschichte voller eigener Ideen über ein Designobjekt, dessen Wahl ihm die Inspiration dazu geliefert hat. Wieder erklingt der Toneffekt während weitere Jugendliche mit ihren Ablesezettel am Treppenabsatz erscheinen und sich auf den Stufen dazugesellen. Alle wissen genau, wo sie sich hinsetzen. Es scheint nichts improvisiert und eine gut erprobte Choreographie zu sein. Sobald alle sitzen, setzt der Ton abermals aus. Weitere Geschichten folgen, teilweise auch nur einzelne Sätze, die sich im Wechselspiel mit anderen Vorlesenden abtauschen. Es könnte eine gemeinsame Gesprächsrunde sein. Erneut veranlasst der Ton, dass die Jugendlichen sich neu positionieren und bei einsetzender Tonpause unmittelbar in ihrer Lesung fortfahren. Nun versteht sich das Prinzip. Bewegung bei Ton, Lesung in Ruhestellung. Eine einfache szenografische Idee und gerade deswegen ausserordentlich wirkungsvoll.
Zeichen setzen!
Beobachtung: Auf den ersten Blick noch unauffällig und homogen eingebettet nebst den anderen Plakaten machen die markanten Aussagen in Schwarz-Weiss dann doch stutzig. In diesem hauptsächlich design-historisch anmutenden Plakatgang stimmt doch etwas nicht. Hier geht es um Themen, die uns alle beschäftigen oder zumindest nicht kalt lassen sollten. Immer wieder taucht in der regelmässig plazierten Plakatreihenfolge einer dieser rudimentär gearbeiteten Aufrufe auf. Es sind Fragen zu Klimawandel, Umweltschutz, Rassismus und mehr, Aufforderungen zum Agieren und Hinweise zum Nachdenken. All dies in einer grafisch einfach kommunizierten Art umgesetzt. Die typografischen Kernaussagen wurden hierfür mit einfachen Bildmitteln verstärkt und ganz klar nicht am Bildschirm gefertigt. So bilden diese Plakate im selben Format, aber schwarz-weiss gedruckt, einen thematischen und visuellen Kontrast zu den Plakatklassikern.
Wer genau hinter den Werken steht, nämlich angehende Köch/innen, und dass diese nach eingehenden Recherchen und Diskussionen zu den dringlichen Themen je eine persönliche Botschaft dazu erarbeitet haben, kann auf zusätzlichen Bögen mit genauer Projektbeschreibung zum Mitnehmen nachgelesen werden. Es tut gut zu wissen, was sich vorab noch alles hinter den Kulissen abgespielt hat. Denn dadurch wird noch mehr gestaunt.
Es tierischs Abentüür
Beobachtung: Freudig aufgeregt sitzen viele kleine Akteur/ innen am Rande der Bühne und können ihren Einsatz kaum erwarten. Die Unruhe ist gross. Das ist verständlich und dennoch stört sie nicht. Liebevoll und unauffällig geben Betreuende Anweisungen, befestigen ein letztes Mikrophon und lenken die Vorschulkinder von ihrer Nervosität ab. Dann beginnt das Abenteuer. Ihre farbigen T-Shirts signalisieren den Kindern wie sich zu gruppieren und wo sie sich auf der Bühne hinstellen sollen. Ohne Durcheinander stehen sie alsbald in Reih und Glied. Es wurde bestimmt viel geprobt. Mit Beginn der Musik legt der Gesang los, frei und mit direktem Blick in das Publikum. Die Lieder sind zwar von der Band komponiert, der Inhalt aber stammt von den Kindern. Damit diese den Faden nicht verlieren, stehen die Musikerinnen vor der Bühne, kaum erkennbar sind ihre Rücken im schwarzen Overall, und singen mit. Ähnlich schlau ist die Schauspielerei konzipiert. Die Kinder stellen nämlich einfach eins zu eins den Liedinhalt dar, den sie gerade singen und hören. Wenn es zwischendurch kleine Pannen gibt, wird musikalisch höchst professionell improvisiert und kaum jemand merkt etwas.
Obwohl die abenteuerliche Geschichte der drei Kinder, die sich im Zoo verlaufen und dementsprechend allerhand erleben, spannend ist, beginnt sich nach einer halben Stunde Unruhe unter dem jungen Publikum auszubreiten. Und genau dann stimmt ein Lied an, das zum Mitsingen und Mitbewegen einlädt. Es könnte zeitlich nicht besser abgestimmt sein. Im Anschluss kann das musikalische Bühnenstück mit erneuter Aufmerksamkeit zu Ende gesungen werden. Und es wird sogar nach Zugabe verlangt, so gross war das Vergnügen.
Was ist das Gegenteil der Welt?
Beobachtung: Ohne Vorlage, direkt und hemmungslos wird in das Mikrophon gesprochen, als ob die Bühne der Kinder täglicher Aktionsraum wäre. Sie stellen Fragen, eigene und ganz persönliche, zu Liebe, Zeugung, Pubertät, Sexualität, Familie, Alter und Tod. Nur Fragenstellungen und trotzdem entwickelt sich daraus eine Art Narrative, da sie von der Autorin geordnet eine Zeitachse bilden. Die Chronologie hilft dem Publikum den Kindern mit ihren unzähligen, kritischen bis amüsanten Fragen durch das Leben zu folgen. Gleichzeitig werden nach Anworten im eigenen Leben gesucht. Das macht nachdenklich. Aufgelockert wird die sinnige Stimmung mit wunderlichen Geräuschen. Soeben gesprochene, sich räuspernde, schnalzende und andere Mundgeräusche werden von dem Musiker als zusätzliche Tonebene simultan und fortlaufend entwickelt. Die Überlagerung lässt schmunzelnd aufatmen. Hinter den tiefgründigen Lebensfragen stehen eben doch kleine Menschen mit ihrer Körperlichkeit. Das Zusammenspiel der beiden unterschiedlichen Ebenen ist brilliant.
Zwischendurch suchen dann ein paar Fragen dennoch nach Antworten. Das Publikum ist nun an der Reihe. Zwei Kinder steigen von der Bühne und zielen gandenlos mit dem Mikrophon auf die Auserwählten. Schnell soll die Antwort kommen. Je weniger Zeit, desto ehrlicher.
Immer noch sind Bühne und Publikum ganz tradionell getrennt, als sich plötzlich ein Kind unter die Zuschauer setzt. Der gebannte Blick zur Bühne wird nun in andere Richtungen gelenkt. Und zwar auf die Bewegung jedes einzelnen Kindes, das sich nach seiner letzten Frage über Sterben und Tod zum Publikum gesellt. Bis gemeinsam mit allen Kindern auf die leere Bühne geschaut wird. Grandios.
Lehrplan 22
Beobachtung: Wo es raucht, wird einfach hingeguckt. Das instinktive Alarmverhalten wird jedoch umgehend mit Neugierde besetzt, sobald der beeindruckende Ursprungsort entdeckt ist. Eine riesengrosse, begehbare Wolke. Und erst noch eine Warteschlange davor. Keine Frage, da drinnen muss es höchst spannend sein oder es gibt zumindest etwas gratis. Beschildert mit ‚Neue Bildungszentrale‘ lädt das hölzerne Konstrukt zum Hineinklettern ein. Im Innern werden die neuen, frisch gedruckten Lehrpläne 22 ausgehändigt, aber nur wenn eine Frage beantwortet und über die Rutschbahn unter viel Raucheinschuss wieder ins Freie zurückgekehrt wird. Denn hier bestimmen die Kinder, stellen ihre eigenen Fragen und verlangen umgehend nach Antworten. Der Rollentausch lässt ahnen, dass es sich beim Lehrplan 22 um unkonventionelle Bildungsansätze handelt.
Beim Durchblättern dieses 160-seitigen, sehr schön gestalteten, brilliant geschriebenen A4-Buches wird bekannt, dass das Wolkenhaus einer der Zeichnungen enstammt, die Schulkinder als ihre Traumschulen illustrierten und 1:1 vom Szenographen erbaut worden ist. Dieser Lehrplan 22, eigentlich als Lernplan propagiert, entpuppt sich als Nachschlagewerk mit unzähligen Ideenansätzen zur Bildung. Einerseits sind dies die inspirierenden Resultate von ausserschulischen, spielerischen Aktionen mit dem Künstler. Andererseits wurde ein enorm umfangreiches Wissen zu allen möglichen Lehr- und Lernformen von Querdenkenden im In- und Ausland inklusive konkreten Anleitungen, Lese-Tipps, etc. zusammengetragen, formuliert und in einen grösseren Zusammenhang geschafft. Ganz klar befasst sich der Künstler schon länger mit der Thematik und nutzt die Plattform der Blickfelder, diesen wichtigen Fundus an Erkenntnissen an eine breitere Öffentlichkeit zu bringen. Nun ist nur noch zu hoffen, dass diese wertvollen Ideen auch hier und da umgesetzt werden. Denn jede Lehrperson soll auch Lernende sein, wie eines der Zitate im Lehrplan 22 so treffend besagt.
Ganz anders!
Beobachtung: Die Nummer 8102 springt ins Auge. Nicht nur zwar. Erstaunlich, was alles so getragen werden kann. In der professionell beleuchteten Glasvitrine des Designmuseums wird eine Schmuckkollektion präsentiert, wobei die farbigen, originellen Sujets, ob formal abstrakt oder konkret, eher als tragbare Kunstwerke verstanden werden. Den Interpretationsmöglichkeiten der Schüler/innen wurde von der Künstlerin viel freien Lauf erlassen. Teil der Inspiration stammt bestimmt von der Hip-Hop Kultur. Denn Ringe, Ketten, Armbänder, Ohrringe und anderes Tragbares erweitern im heutigen Modeverständnis die Kleidung und vermitteln oft sogar eine persönliche Haltung.
Wie die originellen Schmuckstücke getragen werden, wird während der Vernissage offenbart, als die Schüler/innen Fotos von sich zeigen, die bei einem professionellen Shooting im Museum enstanden sind. Diese waren sogar für die ganze Dauer der Ausstellung auf einem Tablet einsehbar. Ausserdem werden die Ideenfindungen kurz einzeln vorgelesen. Ein wenig dürftig, denn der Prozess dahinter war bestimmt einiges grossartiger, als was gerade in diesen wenigen Minuten präsentiert worden ist. Gut, dass die geheimnisvolle Zahl nochmals zur Sprache kommt. 8102 ist die Postleitzahl von Oberengstringen, nämlich da, wo das Schulhaus steht. So einfach und naheliegend im wortwörtlichen Sinne können gute Ideen manchmal sein.
Dance the Robots
Beobachtung: Zurück in die Vergangenheit ist hier vorerst einmal angesagt. Der Song von Deep Purple als Auftakt katapultiert unmittelbar in die 70er Jahre. Auf oder besser in der Bühne, ein gedeckter Unterstand im Freien wurde dazu geschickt umfunktioniert, wippen Jugendliche in Schlaghosen und hautengen Oberteilen zur Musik und singen zudem erstaunlich gut ihre eigenen Songs. Derweil tanzen weitere Darstellende mit Silbermasken im Roboterstil zur gleichen Musik. Die beiden so unterschiedlich kostümierten und sich bewegenden Gruppen sind zwar örtlich auf der Bühne getrennt, doch weist die Choreografie deutlich auf ein Zusammenspiel hin. Die Synchronität von Vergangenheit und Zukunft irritiert ein wenig, scheint jedoch etwas vermitteln zu wollen. Gesang wird mit Tanz, Schauspiel und Kundgebungen durchmischt. Vertraute Parolen wie „Make love, not war“ „Gay Black Women Power“„Save the planet“ lassen allmählich die Thematik erahnen. Die Zukunft steht warnend vor der Türe. Lasst uns nicht die Forderungen von früher vergessen, denn sie gelten immer noch. Auch im Zeitalter der Roboterisierung.
Während der Performance wird die reich bebilderte, installative Bühnenrückwand wiederholt miteinbezogen. Die Jugendlichen lassen diese erklingen, blinken, erzittern, flattern, sich in alle möglichen Richtungen bewegen und dies ohne Berührungen. Als ob die Wand ein Eigenleben hätte. Genau das hat sie und zwar mit Hilfe von Lichtschranken, wie uns der Künstler im Anschluss erklärt. Und fordert das Publikum auf, dieses technisch hochkomplexe und dennoch künstlerische Werk, das er mit den Jugendlichen im Vorfeld erschaffen hat, nun selber zu enträtseln.
Mobiles für den Himmel
Beobachtung: Einfacher geht es fast nicht mehr. Das Grundrezept besteht aus Faden und Röhrli. Und einer Portion Geschicklichkeit. Die farbigen Trinkhalme in beliebig zurecht geschnittenen Längen werden mit durchgefädeltem Faden aneinandergeknüpft und beginnen Raum einzunehmen. Wer will, kann mit Pailetten und Glasperlen zusätzlich verzieren. So entstehen Schritt um Schritt diese federleichten, geometrischen Gebilde, die architektonisch anmuten.
Damit das ‚wie‘ einen Platz in der Erinnerung der Kinder erhält, wurde mit den engagierten Lehrpersonen eine Art Anleitung in Wort und Bild erarbeitet und während der Vernissage in einem Sitzkreis originell präsentiert. Im Anschluss soll das Publikum es doch auch einmal ausprobieren, so die Aufforderung. Von eifrig erklärenden Kindern lassen sich die interessierten Erwachsenen in die Kunst einführen. Sofort breitet sich eine gemütliche und doch geschäftige Stille aus. Das Anfertigen von Himmelis scheint etwas Medidatives zu haben. Zudem merken die Kinder nicht einmal, dass sie hier gerade das räumliche Denken erlernen und mit viel Fantasie und Spass auch noch üben. Den Schulstoff so einzubetten müsste eigentlich das Ziel eines ganzen Lehrplans sein. Hier hat die Designerin mit ihrem Projekt schon einmal eine erste Inspiration dazu geliefert.
Pop-Kissen
Beobachtung: Dürfen wir Ihnen eine Führung geben? kommt die unverhoffte Anfrage. Ein spontanes und erst noch privates Angebot. Es gibt gerade kein anderes Publikum. Ganz offensichtlich halten die Kinder die Begeisterung über ihre Werke, diese Riesenkissen, nicht in Grenzen und brauchen unbedingt Zuhörer und Zuschauer. Ob Doughnut, Grabstein, Käse oder Rotztuch, jedes dieser aussergewöhnlichen Kissen hat seine eigene Geschichte. Wo erst noch zu viel Respekt vor diesem renommierten Designmuseum die Ideenflut zurückhielt, ermunterte die Textildesignerin zu mehr Mut. Die eigenwilligen und von Hand gemalten Kreationen passen nebst den Designermöbeln ausserdem bestens in die gestylte Lounge des Museums. Um nicht nur bei dem Ah und Oh über Form und Farbe der Kissen zu verweilen, können die zahlreichen und nicht weniger interessanten Entwicklungsschritte in einer aufgelegten Prozessbroschüre erfahren werden.
Die Vernissage als Performance ist etwas ganz besonders und basiert auf einer Idee einer Schülerin. Ohne die Offenheit der engagierten Lehrperson jedoch wäre diese vielleicht ungehört geblieben. Alle Kinder sollen zu Beginn schlafend auf ihren Kissen liegen, wobei in der Folge ein Kind nach dem andern aufgeweckt das jeweilige Kissensujet pantomimisch umsetzt und sich danach wieder hinlegt. Das Ganze ist mit passender Musik untermalt. Die kurzen Aufführungen sind richtig unterhaltsam und das Publikum bleibt tatsächlich für die lange Dauer von 30 Minuten aufmerksam und begeistert. Gerne wird auch noch weiterhin zugehört, als das Projekt mit allem Drum und Dran von Leitung, Museumsvermittlerin, Lehrperson und Blickfelder aufs Höchste gelobt wird.
Ding-Geschichten
Beobachtung: Es grenzt schon fast an professionelle Schauspielerei, was die jungen Darsteller/innen in dieser bestimmt oft geprobten Aufführung zeigen. Richtig viel auswendig gelernt haben sie. Eine eigene Auswahl an Objekten des Sammlungsarchivs im Designmuseum und des Brockenhauses haben den Kindern die Inspiration zu einer persönlichen Geschichte geliefert, um diese jeweils in kleinen Gruppen als amüsanten Theater-Sketch frei umzusetzen. In ihren neuen Rollen erhalten die Objekte ein Eigenleben und werden aus vollkommen anderer Perspektive wahrgenommen. Nämlich aus der fantasievollen Sicht der Kinder. Und oft ist das sehr lustig. Damit das Publikum auch noch etwas über die wahre Designgeschichte der Objekte erfährt, zitieren alle zusammen im Chor die vom Museum vorgegebenen, historischen Worte. So alternieren die gegensätzlichen Szenen und genau dieser Kontrast ermutigt, sich nebst der Fakten auf neue Möglichkeiten der Betrachtung einzulassen.
In der Folge wird der Prozess des soeben Gesehenen und des noch zu Sehenden von der Vermittlerin und Theaterpädagogin unnötigerweise ausführlich erläutert. Der Nachklang der Darbietung und die Neugierde für Teil zwei gehen dabei etwas verloren. Der anschliessende theatralische Rundgang leitet in ungewöhnliche Ecken und Winkel des Museums, die sich die Kinder für ihre selbst inszenierten Minitheaterstücke ausgesucht haben. Noch einmal schöpfen sie aus dem Fundus der Objekte ihrer Wahl und integrieren sie in ihr frei erfundenes Schauspiel. Die Wahrnehmung ist nun anders. Der intime Rahmen lässt unmittelbar in die Geschichte eintauchen und mit neu erlernten Blickwinkeln verlässt das Publikum das Museum.
Rasen betreten verboten!
Beobachtung: Eine Rakete steht bereits, als Startschuss für die Baulustigen. Während des Blickfelder-Festivals soll ein gigantisches Bauwerk darum entstehen. Noch steht die schlichte, elegante, aus Holzlatten zusammengenagelte Kon-struktion alleine auf der Wiese. Eine Plattform auf halber Höhe lädt zum Klettern ein. Wie ist die Aussicht wohl von dort oben? Damit sind schon einmal zwei Dinge klar. Der Baufantasie sind keine Grenzen gesetzt, denn mit der richtigen Konstruktion ist fast alles umsetzbar. Und die Bauwerke sollen nicht nur von unten bestaunt werden, sondern ausserdem zum Klettern, Gehen, Sitzen, Rutschen und ganz allgemein zum Spielen auffordern. Um von solchen baulichen Anforderungen nicht überwältigt zu werden, gibt es eine Anzahl Helfer/innen, die mit Fachwissen, Tipps, Ideen und handwerklicher Hilfe den Kindern und Erwachsenen immer zur Verfügung stehen. Es wird sowieso hauptsächlich gemeinsam gewerkelt, denn Sägen, Nageln, Bohren und Montieren geht besser zu zweit oder in der Gruppe. Nur schon eine realistische Bauidee zu entwicklen braucht mehrere Köpfe. Interaktion vom Feinsten also.
An der Finissage ist das Gelände auf der Wiese kaum mehr zu erkennen. Da steht die Rakete nun inmitten eines riesigen Holzgebildes, das in alle Richtungen gewachsen ist. Eine einzigartiger Spielplatz auf Stelzen zum Entdecken und Ausprobieren. Ein letztes Mal wird tüchtig gefeiert, um dann entgültig mit ein wenig Wehmut Abschied zu nehmen. Anschliessend wird das Bauwerk von Gross und Klein in erstaunlich kurzer Zeit wieder in seine Einzelteile zerlegt. Alle helfen allen und zurück bleibt der Nachhall einer äusserst nachhaltigen Zusammenarbeit.
Wohin des Weges?
Beobachtung: Wer bin ich? Was ist mir wichtig? Was wünsche ich mir? In den drei zusammengesetzten Dokumentarfilmen über Schüler/innen von drei verschiedenen Schulstufen zwischen 8 und 16 Jahren wird viel gefragt. Ganz nah dran ist die Kamera, als die Protagonisten/innen ihre Antworten sprechen, denn Gesichter und Mimik verraten noch einiges mehr hinter den Worten. Ob fröhlich, nachdenklich, unbeschwert, zögerlich, selbstbewusst, unsicher, direkt, oder scheu, die sich gerade entwickelnden jungen Persönlichkeiten offenbaren eine reiche Bandbreite an Wesensarten. Fast intim muten die Einblicke der Kamera an. Es braucht bestimmt einiges an Feingefühl der Filmcoaches, bis Kinder und Jugendliche ihr wahres, authentisches Selbst zeigen. Insbesondere auch, da sie alle vor einem Übergang in ihrem Leben stehen. Wechsel in die Mittelstufe, Oberstufe und ins berufliche Leben stehen an und decken nebst gespannter Neugierde auch Unsicherheiten und Ängste auf. Dann wiederum sind es auch ganz einfach junge Menschen, die gerne Spass haben, Unsinn treiben und ausserhalb der Schule ihren eigenen Interessen nachgehen. Dies wird anhand von selbst gedrehten Filmszenen oder weiteren Dokumentarmomenten des Schulalltags dargestellt. Die Inspiration dazu wurde im Vorfeld über längere Zeit zusammengetragen. Ein Teil davon, Tagebuchtexte, Zeichnungen und Fotografien sind in einer Ausstellung neben dem Eingang zum Filmvorführungsraum zu sehen, wo auch zusätzlich drei Monitore die Filme der jeweiligen Klasse im Loop abspielen. Mit Kopfhörern dicht vor dem Bildschirm wird das Zuschauen noch intimer, fühlt sich sogar fast ein wenig voyeuristisch an. Und gerade diese Faszination, so viel Persönliches über diese Kinder und Jugendlichen zu erfahren, was man üblicherweise nicht zu sehen und zu hören kriegt, lässt nicht mehr los. Wenn nur nicht schon andere Leute ungeduldig darauf warten würden, auch einmal die Kopfhörer überzustülpen.
#Giselle
Beobachtung: 175-jährige Ballettgeschichte und Jugendliche sollen sich hier gegenseitig befruchten und ein Ballettschlüsselwerk auf der Höhe unserer Zeit neu interpretieren. Eigentlich ein ziemlich hochgestecktes Ziel. Gleich zu Beginn der Aufführung wird deutlich, dass das Publikum Nebensache ist. Die Bühne nimmt den ganzen Raum auf zwei Ebenen ein und die Zuschauenden sind unauffällig an den Wänden entlang plaziert. Ebenerdig und so nahe an den jungen Schauspieler/ innen zu sitzen lässt vollkommen in das Dargebotene eintauchen, wobei die herausragende Qualität von Schauspiel, Tanz, Gesang, live Musik, Lichtgestaltung und Bühnenbild eine grosse Rolle spielt. Die historische Vorlage wurde dazu mit den Oberstufenschüler/innen ins digitale Zeitalter übersetzt, bleibt aber erkennbar und bietet eine neuen, kritischen Blick auf die romantische Urgeschichte. Eine sehr intelligente und geschickte Inszenierung ermöglicht allen Jugendlichen, ihre Rollen ohne zu hohen und mit gleichberechtigten Anforderungen darzustellen. Aufgeteilt in Tanzende oder Sprechende muss niemand beides bewerkstelligen. Die Mehrzahl tanzt und bewegt sie sich im Sinne der Neuinterpretation abwechselnd wie Androiden oder Menschen, wobei die Restlichen ihre Sätze ebenfalls in den zwei verschiedenen Modi hinter aufgestellten Mikrophonen sprechen. Ausserdem wurden einige Sprechszenen im Vorfeld gefilmt und als Projektionen in die Aufführung integriert. Auch dies eine Entlastung für die jungen Schauspielenden, die immerhin fünfmal live auftreten. Natürlich sind dies nur die Gedanken einer analytischen Beobachtung und nichts davon fällt auf, denn die Aufführung an sich ist einfach nur genial und hoch professionell. Dass hier nebst so viel innovativem Wirken auch Einiges an Nerven und Schweiss inklusive zusätzlichem Budget dahinter stecken, muss bei diesem Qualitätsanspruch einfach angenommen werden. Auch wenn das bemerkenswert perfekte Endresultat dieser äusserst fruchtbaren Kooperation nichts davon preisgibt.
Blind Cinema – Kino im Kopf
Beobachtung: Von einem Moment auf den anderen dreht sich alles nur noch um das Gehör. Nämlich dann, als das Publikum bequem auf ihren Kinosesseln sitzend und mit einer Augenbinde vorübergehend erblindet den Filmstart erwartet. Es dauert einen Moment, um sich an diese sensorisch ungewohnte Situation zu gewöhnen. Sich vollständig auf das eigene Hören zu verlassen verlangt Hingabe, denn das Sehen als primären Kontaktpunkt zur Aussenwelt nimmt täglich eine überaus dominante Rolle ein. Dies wird jetzt erst richtig nachvollziehbar. Wer verbindet sich ansonsten schon freiwillig die Augen? Nun kehrt der eigene Blick automatisch ins Innere. Vorerst sind es die Geräusche der Schulkinder, die sich mit speziell entwickelten Sprach-Hör-Rohren hinter den Sitzreihen zu schaffen machen, die visuell eingeordnet werden wollen. Bei Filmbeginn wird eifrig losgeflüstert. Jedes Kind kann simultan zwei Zuhörende bedienen, wie nach der Vorführung beim Anblick des sonderlichen Rohres ersichtlich wird. Die Kinderstimme, die spontan beschreibt und teilweise auch interpretiert, was sie gerade auf der Leinwand sieht, beginnt die eigene Vorstellungskraft mehr und mehr zu beflügeln. Ausserdem unterstützt die begleitende Filmmusik, die imaginären Bilder in Stimmungen zu versetzen, bis im weiteren Verlauf eine zusammenhängende Geschichte entsteht. Kaum zu glauben, was im inneren Auge alles möglich ist.
Erstaunlich ist, dass die Kinder den Film im Vorfeld nie gesehen haben und die Filmszenen doch nahtlos, wie auch lebendig vermitteln können. Gemäss der Aussage der Künstlerin hat sie auf Grund eigener empirischer Untersuchungen herausgefunden, dass der Sehen-Reden-Fluss bei Kindern im Alter von 9 bis 10 Jahren optimal ist. Die Entwicklung des Kindes birgt so manches Geheimnis in sich.
Club der Entdecker*innen
Beobachtung: Das neongrüne Fragezeichen sticht ins Auge. Immer wieder taucht es auf, wie ein Logo, und bald wird der Zusammenhang deutlich. Auf dem Blickfelder Gelände tummeln sich viele Besuchende und die drei mobilen Stationen mit ihren jungen Akteur/innen brauchen Wiedererkennungswert, denn sie gehören zusammen. Erkennbar mit gekennzeichneten T-Shirts, Koffern und Kisten, widmen sie sich Fragen rund ums Festivalprogramm und laden dafür zum Mitspielen ein. Spontan werden Leute angesprochen und bei genügend grosser Anzahl geht es los.
An einem der drei Frage-Kioske, wie sie die Beteiligten nennen, gibt es eine aussergewöhnlich orginelle Form von Frage-Spiel im Angebot. Verschiedene Gegenstände werden von drei der neongrünen Fragezeichen-Akteurinnen mimisch und ohne Sprache in kürzester Zeit dargestellt. In nur fünf Sekunden soll das Publikum die Antwort erraten, wobei durch die Hektik viel Spass ensteht. Bei Spielende dürfen alle von den selbstgebackenen Köstlichkeiten kosten, denn Gewinner und Verlierer in diesem Sinne gibt es nicht. Da so einiges im Festivalangebot von der Niederlande stammt, testet ein weiterer Fragen-Kiosk das Wissen über jene Ecke Europas, derweil die korrekten Antworten mit Punkten beim Himmel-Hölle Hüpfspiel belohnt werden. Auch hier werden alle Mitspielenden am Schluss verköstigt. Bei der dritten Station dringt die Fragerei regelrecht ins Persönliche vor. Musikalische, kulinarische und andere Vorlieben müssen offenbart werden. Neugierig hören die Spielenden bei den Antworten anderer mit. Gibt es einen allgemeinen Konsens oder ist die eigene Aussage einsame Aussenseiterin? Es entstehen unübliche Überlegungen, die im Alltag oft verloren gehen. Und diese, nebst den bekennenden Antworten, werden abermals mit leckerem Selbstgebackenem belohnt.
Schlussbericht
Auf 24 Seiten lassen wir die elf Festivaltage Revue passieren. Mit Bildern, Eindrücken und Stimmen zu den Aufführungen, zu den partizipativen Projekten von Kunstschaffenden mit Schulklassen und zum Treiben im Festivalzentrum.